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… ist im Einleitungstext alles gesagt. Die Homepage www.der-schwache-glaube.de ist auf die Blog-Seite umgezogen.
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Drüggelter Kapelle am Möhnesee

 

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Der schwache Glaube, Rezension von Christoph Fleischer, Fröndenberg 2023

Zu: John D. Caputo: Die Torheit Gottes, Eine radikale Theologie des Unbedingten, Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern 2022, Softcover, 167 Seiten, ISBN 978-3-7867-3298-3, Preis: 19,00 Euro,

Mit einer aktuellen Einleitung des Autors und einem Nachwort von Helena Rimmele, Herbert Rochlitz und Michael Schüßler

Aus dem Englischen von Helena Rimmele und Herbert Rochlitz

Link: https://shop.verlagsgruppe-patmos.de/die-torheit-gottes-303298.html

Zuvor:

Über meine Lektüre von Jacques Derrida und Gianni Vattimo und deren „schwaches Denken“ kam ich vor ca. 20 Jahren auf den Begriff vom „schwachen Glauben“, nach dem auch diese Homepage benannt ist. Erst später entdeckte ich Schriften von John D. Caputo, dessen Religionsphilosophie eine ähnliche Begrifflichkeit erforscht. Ich muss gestehen, dass ich kaum in der Lаge gewesen wäre, ein Buch von Caputo im Original zu lesen, obwohl ich es immer wieder versuche, da sie in einem anspruchsvollen Englisch formuliert sind. Umso mehr freut es mich, dass jetzt mit diesem Band eine deutsche Übersetzung vorliegt. Das Buch „The Folly of God“ greift in der Tat die Fragestellung des schwachen Glaubens in besonders Maß auf. Leider warten noch mehrere weitere Werke Caputos auf deutschsprachige Übersetzungen, die ich sehr begrüßen würde

Die Torheit Gottes.

Obwohl der Titel etwas schroff oder rätselhaft klingt, ist er ganz passend und bietet zugleich eine Chiffre, die sowohl zur Philosophie als auch zur Theologie passt. Sie greift ein Bibelzitat aus dem 1. Korintherbrief auf, das vielleicht gar nicht so wörtlich gemeint ist, wie es hier klingt, heißt es nämlich: „Das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen.“ (1. Korinther 1, 25). Da fragt sich ja kaum jemand, was die Torheit Gottes eigentlich ist. Aber das sollte man.

Möglichkeit und Grenze der Ontologie.

John D. Caputo greift zuerst auf Paul Tillich zurück, um sich aber an späterer Stelle wiederum von diesem deutsch-amerikanischen Theologen abzugrenzen. Für Tillich ist Gott das Unbedingte, das Sein selbst. Derrida, ein weiterer für Caputo wichtiger Philosoph, trennt zusätzlich das Unbedingte von jedem Machtanspruch, spricht von einer Macht ohne Allmacht. Diese Eigenschaft kann auf Gott übertragen werden.

Was meint Dekonstruktion?

Hierbei ist mit Derrida häufiger von Dekonstruktion die Rede. Das Unbedingte ist etwas, das nicht dekonstruierbar ist. Das heißt, das Unbedingte ist nicht mehr auf menschliche, gedankliche Konstruktion zurückzuführen. Dekonstruktion ist somit eine ideologiekritische Analyse.

Im weiteren Ablauf der Argumentation wird hier deutlich, dass auch die Ontologie z. B. bei Tillich oder Heidegger als Konstruktion entlarvt wird. Deren Gottesbegriffe klingen vielleicht schwach, sind es aber nicht. Mit dem schwachen Denken wird der Atheismus genauso entlarvt wie der Theismus. Caputo schreibt: „Die Religion des höchsten Wesens … ist eine spirituelle Kindheit, die in der Angst vor ewigen Strafen durchlebt wird.“ (S. 97).

Wer nun meint, Caputo wiederhole lange Bekanntes sollte weiterlesen. Denn die zentrale Aussage Caputos besteht darin, die Existenz Gottes zu bestreiten. Damit wird aber die Rede von Gott nicht sinnlos, sondern nur anders. In eigenen Worten würde ich (d. Rez.) das Gelesene so zusammenfassen: Gott ist nicht, Gott geschieht, Gott ereignet sich, Gott insistiert. Gott lässt sich auch als Name beschreiben: „Der Name ‚Gott (-es)‘ ist symbolisch, aber er umschreibt das ganze Bedeutungsfeld.“ (Caputo, S. 107)

Hierbei zeigt der von Hause aus katholische Religionsphilosoph, dass die Theologie oft mehr auf Aristoteles aufbaut als auf die Bibel. Dagegen hatte, so bemerkt der Katholik Caputo, schon Martin Luther protestiert.

„Theopoesie“ statt religiöses Wissen.

Schon auf den ersten Seiten des Buches begegnet der Begriff der „Theopoesie“. Später wird dann deutlich, dass dieser Hinweis die theologische oder religionsphilosophische Beschreibung des Gottesbegriffs ersetzt. (Das geht schon auf das schwache Denken von Vattimo und Derrida zurück. Diese meinen, Wissen sei Interpretation. D. Rez.)

Wer meint, Gott genau zu kennen, verbaut das mögliche Ereignis seines/ihres Geschehens. „Theopoetische Sprache,“ wie es Caputo nennt, „ist auf das Unbedingte zugeschnitten und passt genau zu dem Ereignis“ (des Namens Gottes, d. Rez., S. 118f.).

Arbeit mit der christlichen Sprache in der Gegenwart.

Ich fasse es für mich zusammen in den Worten Caputos: „Das Reich Gottes wächst mitten aus der Welt, es kommt nicht auf uns von oben herab.“ (S.137) Diese Erfahrung beinhaltet gleichzeitig auch eine Abgrenzung gegen eine starke Systematisierung: „Das Reich Gottes braucht keine königlichen Bevollmächtigten, es braucht, ja es erträgt keine Absicherung, keinen Grund, keine Ursache, kein Ziel.“ (S. 139f). Dabei solle man aber auch nicht auf eine zu starke negative Theologie im Sinn der Mystik hereinfallen, die lediglich eine alternative Ontologie bietet.

Fazit

Ich denke (d. Rez.), dass der Begriff „Torheit Gottes“ nicht zuletzt geklärt werden kann. Ist es mehr als der Teil eines Sprachspiels? Ist die Schwäche Gottes seine wahre Stärke, dann wäre eben genau dies eine Metaphysik durch die Hintertür (wie oben an der Mystik gezeigt). Was jedoch auf jeden Fall deutlich wird, wenn auch meiner Meinung nach zu wenig, dass die Bibel in weiten Zügen Beispiele für eine schwache Theologie enthält, z. B. die Kreuzestheologie. Dass aber auch andere Machtvorstellungen in Bezug auf Gott vorkommen, dürfte nicht überraschen. Caputo zeigt die Am Beispiel von Matthäus 25, dem Gleichnis vom Weltgericht.

Die Provokationen der „radikalen Theologie“ Caputos, in denen m. E. die frühe Dorothee Sölle nachklingt, sind aktuell. Die Verbindung zur Dekonstruktion lässt sich auch mit Husserls Phänomenologie und den Untersuchungen von Emanuel Levinas verbinden. Dass hier kein religiöser Subjektivismus gemeint ist, zeigen die biblischen Zitate und Anspielungen, die m. E. noch verstärkt werden könnten. Der Machtverzicht Gottes ist in vielen Texten der Bibel im Alten und Neuen Testament mit Händen zu greifen. Hier meine ich auch Spuren Jürgen Moltmanns politischer Theologe zu entdecken. Die Machtlosigkeit der Kirche und ihrer Verkündigung kann somit nicht als Verlust, sondern als Chance begriffen werden.

Predigt Matthäus 9,9 – 13, Kirche und Resonanz, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2023

Septuagesimae 2023

9Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.

10Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. 11Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?12Als das Jesus hörte, sprach er: Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.

13Geht aber hin und lernt, was das heißt (Zitat Hosea 6,6): »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.«

Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder. (Luther 2017, Predigttext s.o.)

 

Liebe Gemeinde,

Jesus antwortet denen, die an einer reinen Lehre und Praxis festhalten: „Nichtdie Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“ (V.12).

Zwei Entwürfe von Soziologen, die sich auch mit der Frage nach der Kirche in unserer Gesellschaft beschäftigen, drängen sich mir angesichts der Berufungsgeschichte des Matthäus auf: Der eine ist Hartmut Rosa, er setzt der zunehmenden Beschleunigung aller Lebensbereiche in der heutigen Gesellschaft Resonanzerfahrungen (1) entgegen und stellt in einem gut lesbaren Buch die These auf: Demokratie braucht Religion.(2) Der andere heißt Franz-XaverKaufmann und legt eine Kirchenkritik vor mit den interessanten von Karl Marx geliehenen Worten: „…man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt.“ (3)

Die „eigene Melodie“, die die Kirchen zum Tanzen bringt, ist im Evangelium zu finden. Genauer gesagt: In den Worten und den Berichten von Jesus. Was ist eine Berufungsgeschichte anderes als die Erzählung einer starkenResonanzerfahrung? Jesus ruft den Zöllner Matthäus vom Zoll weg in seine Nachfolge. Der Zöllner steht auf und verlässt seine Arbeit, lässt alles stehen und liegen und folgt Jesus. Vorher noch lädt er Jesus in sein Haus ein, teilt mit ihm Brot und Wein. Hier geschieht eine Konversion und den Frommen ist es nicht fromm genug. 

„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

Hartmut Rosa sieht – vereinfacht gesagt – wie die Zentrifugalkräfte der Spätmoderne den Menschen entwurzeln. Auch die Demokratie selbst ist gefährdet, da die Beschleunigung – verstärkt durch die Krisenanhäufung(!) – Prozesse des Nachdenkens, des Innehaltens und des Abwägens, der fruchtbaren Auseinandersetzung, nicht mehr zulassen. Die politische Klasse ist selbst eine Getriebene, möglichst schnell Probleme zu lösen. Dabei kann selbst schon einmal schnell das Grundgesetz außer Kraft gesetzt werden (siehe Coronamaßnahmen) oder die Entspannungspolitik von einem zum anderen Tag gekippt werden (Zeitenwende: 100 Milliarden Sondervermögen verankert im Grundgesetz). Es muss halt schnell gehen. Der Zwang zur Beschleunigung führt zu einer weiteren These Rosas: Wenn dem Einzelnen und insgesamt der Gesellschaft der „Burnout“ drohe, steigt die Aggression gegenüber allen und jedem, der politisch andersdenkende Mensch wird zum Feind. Demokratie aber funktioniert im „Aggressionsmodus“ nicht.

„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

In seinem Buch: Demokratie braucht Religion, weist Rosa darauf hin, wie wichtig Räume und Resonanzerfahrungen für das soziale Miteinander sind. Gerade eine Gemeinschaft (Institution), wie sie die Kirchen mit ihren Gottesdiensten, Ritualen, Räumen der Stille und der Begegnung bieten – jenseits von Funktionalität oder einem reinen Wellnessbetrieb – sind ein guter Boden für Resonanzerfahrungen. Kirchliches Leben könnte ein notwendiges Gegengewicht zur Beschleunigungs- und Aggressionsspirale sein und den Menschen Halt und Sinn geben. Die Kirchen geben mit ihrer Botschaft ein „Resonanzversprechen“: „Am Grund meiner Existenz liegt…eine Antwortbeziehung.“ Der Staat kann dieses Resonanzversprechen nicht geben, vielleicht bedingt die Kultur, aber von ihrem Wesen her die Religion, einfacher gesagt: der Glaube an Gott.

Hartmut Rosa schmeichelt den Kirchen und der Kraft der Religionen, letztlich funktionalisiert er soziologisch Religion als Stabilitätsfaktor – hier der Demokratie. Das ist mir zu kurz gesprungen.

Wenn ich mir die Berufungsgeschichte des Matthäus anschaue, dann führt ja die Resonanzerfahrung – Ich, Ich, Matthäus – werde von Jesus herausgerufen gerade nicht zu Stabilität in seinem Leben, sondern zu Abbruch, Aufbruch und jede Menge Widerspruch. Auch die gesamte Geschichte Jesu ist davon geprägt: Resonanz mit dem göttlichen Vater – Widerspruch zur Welt und den herrschenden (religiösen) Verhältnissen.

„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

Außerdem gilt es nüchtern festzustellen, dass die Kirchen (in Deutschland) selbst in einer großen Krise oder positiv gesagt in einem Transformationsprozess stecken, von dem noch nicht abzusehen ist, wohin die Reise geht.

Der Soziologe und katholische Christ Franz-Xaver Kaufmann konstatierte schon vor vielen Jahren, dass die Kirchen „den Kontakt zur Seele“ der Menschen verloren hätten. Sie stoßen zunehmend auf „taube Ohren.“

In seinem neuen Buch über die Zukunft des Christentums – wohlgemerkt mit einem Fragezeichen versehen! – beklagt er die Unfähigkeit zur Veränderung der (katholischen) Kirche (ich ergänze: der Kirchen!) und benennt unter anderem die „Struktur- und die Glaubenskrise“. Gerade die Glaubenskrise gilt es wahrzunehmen und ihr etwas entgegenzusetzen. Vereinfacht gesagt: Der Blick ins Evangelium und die Ausrichtung des Glaubens an die Botschaft Jesu hilft, wieder die „eigene Melodie zu finden“ und die versteinerten Verhältnisse aufzubrechen.

„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

Was heißt das für uns, die wir in einer „überdrehten“ Gesellschaft leben? Selbst nicht gefeit vor Burnout und Resignation? Was heißt das für uns als Lydia-Gemeinde?

Jesusgeschichten sind Hoffnungsgeschichten.

„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

Wie Jesus auf Matthäus zugegangen ist, sollten wir neu den Mut haben auf die Menschen zugehen, wo sie sind und sie herausrufen, einladen mit uns Gottesdienst zu feiern und gemeinsam Erfahrungen des Glaubens zu machen. Denn nur wer Erfahrungen des Glaubens macht, z.B das Singen von geistlichen Liedern Freude macht, wird einen eigenen Zugang zum Glauben finden.Jesusgeschichten sind Hoffnungsgeschichten. Es gilt die Kraft der Worte wieder zu entdecken, aber auch die befreiende und heilende Dimension des Lebens Jesuund der Liturgie. Die Frage nach der Berührung spielt da eine Rolle. Wie können wir Formen entwickeln, einander heilend zu berühren? Ab und an salben wir Menschen im Gottesdienst. Da ist beides gegeben. Rituelle Distanz und Berührung, auch die Feier des Mahls mit Brot und Wein ist sinnlich erfahrbar. Wir machen uns auf den Weg zu einer neuen gemeinsamen Liturgie, einer Liturgie ohne große Schwellen.

Etwas Neues wagen oder etwas Altes neu entdecken, Altes aufgeben, Raum schaffen und gewähren von neuen Formen gemeindlichen Lebens ist eine gemeinsame Suchbewegung. Es gibt auch Herausforderungen in der Nachfolge Jesu, die nicht verschwiegen werden dürfen. Die Hilfe und das Dasein für andere – wie für die Flüchtlinge in unserer Stadt – und aktuell ein besonderer Stachel: Jesu Gewaltlosigkeit und sein Gebot der Feindesliebe. Wie sind wir Gemeinde auf dem Weg zu einem gerechten Frieden? Wie lösen wir untereinander Konflikte?

„Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“

Die Berufung von Matthäus in die Nachfolge Jesu ist nicht nur eine alte Geschichte, sie ist offen für uns – heute, hier und jetzt – sie lädt ein, Jesus nachzufolgen. Wer Jesus nachfolgt, der lebt in Resonanz mit Gott, dem Geheimnis des Lebens, hofft und arbeitet wider aller Resignation auf ein besseres Leben bis Gott wird sein Alles in allem (vgl. Römer 11,36).

Relecture Hermann Hesse, Rezensionen von Joachim Leberecht.

Warum wir Hermann Hesse lesen

Unterm Rad (1906), Vergewaltigung einer Kinderseele

Im Jahr 2022 jährte sich die Veröffentlichung von Hermann HessesSiddhartha (1922) zum 100. Mal, ebenso Hesses Todestag zum 60. Mal. Das war Anlass genug, mich erneut mit fünf Werken Hermann Hesses zu beschäftigen.

Mit Unterm Rad liegt uns eine typische Hesseerzählung vor, die HermannHesse 1906 als junger Schriftsteller veröffentlicht hat. Sie wirft ein Licht auf heutige Bildungserlebnisse. Es bleiben Fragen, wie sich ein Kind dem Erwartungsdruck der Eltern, der Lehrkräfte und anderer Autoritäten entziehen kann und dabei gesund bleibt. Hesse deutet in der Figur Heilners an, dass die Kunst einen Freiheitsraum eröffnen kann jenseits von Tradition und Dogmatismus. Heilner rebelliert gegen das Internat und dessen rigide Lehrerschaft, der es nicht um die Formung und Stärkung der Individualität geht, sondern gnadenlos um Leistung und Unterordnung in ein System. Gerade die zurückliegenden Coronamaßnahmen, besonders die Art der Durchsetzung an vielen Schulen, legen ein beredtes Zeugnis ab, dass die Schule noch immer von Repressivität geprägt ist. Der sensible Hans, dessen Geschichte Hesse in Unterm Rad erzählt, lässt sich nach anfänglichem Zögern auf den Widerspruch gegen den Rektor und die Ordnung im Maulbronner Seminar ein. Jedoch scheitert er auf ganzer Linie, da er mit Wucht in den Abgrund seines Unbewussten – den Verlust seiner Kindheit – gezogen wird. Auf sich selbst geworfen brennt seine Seele aus, Körper und Geist sind total erschöpft. Nur in der Stille des Waldes kann er atmen und leben. Als er sich das erste Mal scheu verliebt, beginnt er sich wieder zu spüren, jedoch währt die Freude nicht lange. An einer handfesten Schlosserlehre findet er Gefallen, auch eine Freundschaft aus seiner Kindheit beginnt wieder aufzuleben. Gerade als er zaghaft seine ersten Schritte in ein neues Leben macht, endet ein Vergnügen mit seinen Kameraden tragisch mit seinem Tod. 

 

Die biografisch geprägte Erzählung Unterm Rad stellt auch heute noch gültige Fragen. Da ist zum einen die Frage nach der Individualität. Wie gelingt individuelles Leben und Stärkung der Persönlichkeit in Bildungsprozessen? Wie viel ist uns die Freiheit des Individuums gegenüber dem Kollektiv wirklich wert? Ist Hesses Unterm Rad in einem gesellschaftlichen Kontext, wo wir globales Handeln auf Herausforderung brauchen, nicht ein nötiges Korrektiv?

Siddhartha (1922), Der Zeit enthoben

 

Siddhartha, der Brahmanensohn, hatte viele Lehrer, aber die Lehre der Tradition (Vater), das Leben als Asket und die neue Lehre des Buddha überzeugen ihn nicht. Nachdem er aufrichtig versucht hat, sein Ich zu töten, geht er in die Welt und lernt die Freuden der Sinne (Eros) und später des Glücksspiels und des Rausches (Alkohol) kennen. Dabei verliert er sich selbst. Noch einmal lässt er alles hinter sich und wird Schüler eines Fährmanns. Dieser überzeugt ihn nicht durch seine Lehre, sondern durch seine Weisheit und meditative Existenz, nicht durch geistliche Übungen, sondern durch sein Sein, seine Güte, sein Schweigen, sein Hören auf den Fluss. Der Fährmann lebt in der Welt, hat aber die Welt überwunden. Von ihm geht Frieden und Versöhnung aller Gegensätze aus. Er gestaltet seinen Fähralltag, begegnet allen Menschen mit aufrichtiger Freundlichkeit, ruht in sich und ist mit seiner Mitwelt verbunden. Bei ihm werden Siddharthas schmerzende Wunden heilen, Jahr für Jahr. Die letzte Wunde heilt, als Siddhartha erlebt, dass der Schmerz gleichzeitig die Heilung schon in sich trägt, die Sünde schon die Gnade, die Endlichkeit die Ewigkeit. Es ist alles eins. Die Erfahrung, dass er selbst mit einem Stein eins ist, dass er selbst göttlich ist, lässt ihn nach langer und entbehrender Sinnsuche in eine Existenz vordringen, die die Vergänglichkeit überwindet. Er ist jetzt schon ewig, damit existiert er ähnlich einem Mystiker in der Einheit allen Lebens. Siddharthas Weg führte über Entselbstung zur Selbstverwirklichung und letztendlich zu seinem wahren Selbst, der Einheit mit allen Geschöpfen und Dingen.

Es ist spannend und passt in unsere Zeit, dass Hesse in seiner indischen Dichtung nicht nach der Identität Siddhartha´s fragt, sondern nach der Einheit und einem spirituellen Weltbezug. Siddhartha als Parabel enthält spirituelle Impulse für eine globalisierte Welt. Der Gedanke der Einheit und die Einsicht, dass alles Leben miteinander vernetzt ist, prägt immer mehr unser Bewusstsein und unser Handeln. Wie kann christliche Theologie und Spiritualität diesen sich formenden Paradigmenwechsel kritisch begleiten, ganz neu sich interdisziplinär aufstellen und den eigenen Schatz (Schöpfungslehre) ins Gespräch bringen und weiter entfalten?

Der Steppenwolf (1927) Der moderne Mensch

Der Steppenwolf alias Harry Haller ist ein moderner Einsiedler, der zurückgezogen von den Menschen lebt, sich vor sich selbst und vor der Welt ekelt. In seinem kleinen Dachzimmer belebt ihn in guten Stunden der Geist von Goethe, Novalis und erhabener Musik. Da er seinen hohen Idealen nicht entsprechen kann, in der Religion keinen Trost empfindet, ist er zu einem sinnentleerten Leben verdammt. Je mehr Harry Haller sich vom Leben enttäuscht abwendet, voll Hochmut auf die einfachen und normalen Bürgerinnen und Bürger schaut, desto mehr füttert er den Steppenwolf in sich, desto aggressiver wird er gegenüber anderen und sich selbst. In sich selbst zerrissen streunt er durch die Straßen der Stadt und findet nirgends Halt. Der Alkohol lässt ihn vergessen, betäubt aber nur kurzfristig sein Gemüt. Sein Leben wird ihm zur Höllenqual, zwanghaft denkt er daran, seinem Leben ein Ende zu setzen – doch er verbietet es sich selbst als eine Art Buße. Als Harry Haller am Ende ist, begegnet ihm in einer Gastwirtschaft mit Tanzsaal eine junge Frau, die ihn vor sich selbst rettet. Ihrer Macht über ihn kann er nicht widerstehen, er muss – ob er will oder nicht – gehorchen. Die androgyne Hermine, eine Prostituierte, führt den Steppenwolf in die sinnliche Welt ein, jedoch erkennt sie im Steppenwolf ihre eigene Verlorenheit. Das Leiden am Leben verbindet das ungleiche Paar. Der Roman kulminiert in einer rauschhaft durchtanzten Ballnacht. Am frühen Morgen werden beide vom geheimnisvollen Musiker Pablo in ein Spiegelkabinett geführt. Harry Haller erlebt in diesem magischen Kabinett einen wilden Ritt seines Unbewussten, ähnlich einem Drogenrausch. Für Harry Haller bleibt angesichts seines Steppenwolf-Daseins und des magischen Welttheaters einzig und allein das Lachen über die Welt und sich selbst.

 

Daraus stellt sich für mich die Frage: Kann der moderne Mensch die entzauberte Welt nur mit einer gehörigen Portion Humor ertragen? Humor schafft Distanz, aber was ist mit Verzauberung und Rausch? Gibt es sie noch die Verzauberung der Welt im christlichen Kontext? Von gemeinschaftlichen Rauscherfahrungen und „Gottesbesessenheit“ mag ich erst gar nicht reden.

 

Narziß und Goldmund (1930), Ein Lob der Freiheit

In Narziß und Goldmund (1930) wendet sich Hesse wieder einer zeitlosen Erzählung zu, ähnlich seiner indischen Dichtung Siddhartha. In der im Mittelalter angesiedelten Geschichte geht es um die ungleiche Freundschaft von Narziß und Goldmund. Ordnung (Klosterleben) und Freiheit (Wanderleben) stehen sich gegenüber. Der junge mutterlose Goldmund wird in das Kloster Maulbronn gebracht. Auf Wunsch seines Vaters soll er Priester und Mönch werden. Im Kloster wird Goldmund der Lieblingsschüler des vergeistigten und aufstrebenden Narziß. Narziß erkennt, dass Goldmund unbewusst leidet. Als er Goldmund mit dem Fehlen jeglicher Erinnerung an seine Mutter konfrontiert, kommt es zu einem Zusammenbruch Goldmunds und nach und nach zu einem lebendigen Bild der Mutter in seiner Seele. Das, was Goldmund vor und für den Vater abgespalten hatte, wird nun zur Leitenergie seines Lebens.

Narziß und Goldmund ist Hesses psychologischster Roman. Nachdem sich Goldmund von Narziß gelöst hat, erzählt Hesse von seinem Wanderleben, bis dieser nach nach Jahrzehnten wieder ins Kloster zurückkehrt. Es ist die Geschichte einer Heldenreise, eine Geschichte zu sich selbst und noch im Sterben zurück zur Mutter. Mit dem Symbol der Urmutter (Eva) spielt Hesse weiter, etwa indem er den Grund für das Gute und das Böse in ihr ausmacht. Aus derselben Quelle kommen Leben und Tod, Lust und Schmerz, Licht und Finsternis. Goldmund wird Künstler und Bildkunst ist für Hesse das Aufhalten der Vergänglichkeit. Für Narziß ist die Erkenntnis wichtig, dass Goldmund mit allen Sinnen voll des guten Geistes ist – jenseits des Reichs der Ideen (Philosophie, Theologie). 

Die Kunst ist eine andere Art von Andacht und Zugang zum Göttlichen. Der Mensch kann nur über die Freiheit zu sich selbst kommen. Kunst und Freiheit gehören zusammen. Es ist auffällig, dass Hesses Kunstbegriff mit seiner Idee von Erlösung (Siddhartha) zusammenfällt. Beides geschieht in der Zeit, hebt aber die Zeit auf. Umgekehrt lässt mich das Fragen: Wie erleben wir heute in der Religion Ewigkeit?

 

Das Glasperlenspiel (1943) Der Geist ist kein Selbstzweck

Am Schluss wird im Roman der institutionelle Dogmatismus hinter sich gelassen. Hesse betont die personale Beziehung zwischen zwei Individuen. Bildung ist Seelenbildung und geschieht auf der Grundlage von Vertrauen. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, erzählt Hermann Hesse die Lebensgeschichte von Joseph Knecht. Hesse verlegt die utopische Erzählung in das Jahr 2200. Hesse erzählt von einer idealen Trotzburg des Geistes im fiktiven Landstrich Kastalien, wo die elitäre Kunst des Glasperlenspiels in einem Männerorden gepflegt wird Der Mensch als geistiges Wesen wird im Orden gegen die Niederungen des weltlichen Lebens verteidigt. Als Joseph Knecht auf der Stufenleiter der inneren Hierarchie des Ordens bis zum Magister Ludi aufsteigt, wähnt er sich am Ziel seiner Berufung. Durch Selbstdisziplin, Askese und Meditation, ja auch Freude und Erkenntnisdurst ist er zum allseits verehrten Großspielmeister im Orden aufgestiegen. Seine Selbstzweifel und seine geistige Unruhe aber lassen sich durch seinen Status nicht beruhigen. Immer tiefer lässt er sich auf die Geschichtswissenschaft ein, die in Kastalien als zeitloses Ideal nicht gepflegt wird. Die Dimension der Zeit macht die Vergänglichkeit, Werden und Vergehen deutlich. Der Geist wird auf das leiblich-soziale Leben bezogen. Aufgrund seiner Erkenntnisse will Knecht die scharfe Trennung in Kastalien zwischen Geist und Welt, Geist und Natur, Geist und Gesetz aufheben. Mit anderen Worten, er will den Orden reformieren und stärker auf die Welt beziehen. Mit seinen Reformbemühungen scheitert Joseph Knecht. Daraus zieht er überraschend die Konsequenz und verlässt den Orden, um als privater Mentor den missratenen Sohn seines weltlichen Freundes zu erziehen.

In Hesses Alterswerk fließen die Hauptthemen seiner Romane ein. Es ist, als müsste Hesse, der in den Geist und in die Schönheit verliebt ist, sagen: Der Geist ist kein Selbstzweck. Der Geist will sich in die Welt inkarnieren. Wahre Kunst ist die Transformation des Geistes in die Welt. Kunst ist widerständig und freiheitsstiftend für Individuen und die Gesellschaft. Für mich als Theologen ist es interessant, wie Hesse im Glasperlenspiel, das, was wir als Inkarnation Gottes in die Welt bezeichnen, für den Geist und die Kunst einfordert.

Angesichts des Todes von Benedikt XVI. im Januar 2023 und beim Nachdenken über Das Glasperlenspiel drängte sich mir die Frage auf: Spiegelt sich nicht im Pontifikat Joseph Ratzingers der erste Teil von Joseph Knechts Biographie und in seiner Kehrtwende von einem reinen Dogmatismus nicht die Haltung von Papst Franziskus? Allerdings ist noch nicht ausgemacht, wessen Geist sich in der katholischen Weltkirche durchsetzen wird.

Predigt Christvesper 2022 in der Markuskirche, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2022

 

Krippe Franz Sales Haus, Essen, Detail

„Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden.“ (Lukas 2,14)

Liebe Heilig-Abend-Gemeinde,

„Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden“ (1) singt die Menge der himmlischen Heerscharen, lobt und preist Gott für die Geburt des Heilands der Welt. Zu Weihnachten gehört das Gloria, das Einstimmen in den Lobgesang der Engel, das Emporheben der Herzen, die Anbetung, die Freude, das Staunen. Ich will mir diese Weihnachtsfreude, dass Gott in Jesus zur Welt kommt, nicht nehmen lassen – trotz allem. Zu Weihnachten gehört das Gloria, aber auch das Kyrie: Weihnachten wirkt tiefer, wenn wir es nicht nur als oberflächliche Idylle erleben, sondern auch in die Abgründe blicken.

Weihnachten ist ein menschliches Fest

Weihnachten ist ein menschliches Fest, das einen göttlichen Ursprung hat. Die menschliche Sehnsucht nach Frieden findet im Weihnachtsfest eine Verdichtung und Zuspitzung, als hätte sich der himmlische Friedensgruß „Frieden auf Erden“ ins menschliche Gedächtnis verheißungsvoll eingenistet. Die Spannung – dass kein Frieden auf Erden ist – bleibt und ist Teil des Festes: das Schon-Jetzt – wir feiern Weihnachten und das Noch-Nicht: Frieden auf Erden.

Weihnachten ist ein Familienfest

Was heißt das für uns, die wir heute Weihnachten feiern? Weihnachten ist bekanntlich heute ein Familienfest. Schon das Narrativ der Heilige Familie facht, seit im frühen 4. Jahrhundert nach Christus Weihnachten zunächst schlicht im Gottesdienst zum Lob Gottes gefeiert wurde, die Familienidylle und die damit verbundenen Komplikationen an.

In der Regel freuen wir uns auf diese besondere intensive Zeit mit der Familie, auch wenn die Vorbereitung jede Menge Stress macht und wir fürchten, wieder nicht das richtige Geschenk besorgt zu haben für die Person, die doch so sehr auf unseren Liebesbeweis hofft. Ein wenig Enttäuschung ist schon im Fest eingepreist, aber wir müssen uns schon ordentlich zusammenreißen, dass es auch richtig schön wird und das Fest nicht kippt. Ach, immer diese Ambivalenzen, kann es nicht einfach mal nur schön sein?

Wer nicht bedürftig ist, braucht Weihnachten nicht

Je älter ich werde, desto mehr liebe und fürchte ich Weihnachten. Ich liebe es mit der Familie zusammen zu sein, ich fürchte aber auch bei aller festlichen Kleidung mein Nacktsein, diese besondere Verletzlichkeit über den Weihnachtstagen: das Festgelegt-Sein auf bestimmte Rollen, das Aufbrechen von schmerzhaften Brüchen meines Lebens, aber auch das Gefühl des Überfordert-Seins, dass ich mehr bei den anderen bin und mich gar nicht mehr recht spüre.

Es tut mir gut, mich dann an die Weihnachtsbotschaft zu erinnern. Mein Frieden ist mir durch Gott geschenkt und nicht von meinen Stimmungen oder Bemühungen abhängig. Der Frieden, den mir Gott schenkt, ist durch nichts gefährdet. Daher entfaltet die Weihnachtsbotschaft ihre größte Kraft und Freude bei denen, die bedürftig sind. Wer nicht bedürftig ist, braucht Weihnachten nicht – und wer Gottes nicht bedürftig ist, versteht den Sinn des christlichen Weihnachtsfestes nicht.

Ich nehme wahr: Meine Verletzlichkeit, mein Nackt-Sein über die Weihnachtstage korrespondiert mit der Verletzlichkeit des hilfsbedürftigen Kind Gottes in der Krippe und darf sein, ist vielleicht sogar fruchtbar und heilsam, da ich mit meinen Bedürfnissen in Berührung komme. Wenn Gott schon (zunächst) hart am Holz der Krippe aufschlägt, schutzbedürftig wird, wieviel mehr darf ich menschlich sein mit allem was dazugehört, besonders der Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Wie sehr darf ich aber auch Vertrauen wie ein Kind und gewiss sein: Ich bin angenommen.

Weihnachten heißt einander Frieden wünschen

Ach, ihr Lieben, wir wissen es doch: Es geht an Weihnachten nicht um Perfektion, nicht um das Abspalten von Gefühlen, nicht um einen romantisch-kitschigen Familienfrieden, sondern um Annahme, um Sein-Dürfen, dass wir uns einander in die Augen schauen und einander Frieden wünschen, ja wieder miteinander Frieden schließen, unser Verhältnis erneuern oder zumindest die Kraft spüren, die wir einander schenken, dass wir zusammenstehen, dass wir zusammen gehören, selbst wenn uns wesensmäßig Welten oder in echt hunderte von Kilometern trennen. Weinachten ist immer wieder Aufbruch, Erneuerung hin zu Versöhnung und Frieden, auch mit der eigenen Lebensgeschichte, vielleicht sogar ein Einstimmen in das, was unverfügbar ist, was wir gar nicht annehmen wollen, was aber so viel Kraft bindet und ein bejahendes Leben verhindert.

Jedenfalls gehen diese manchmal für nicht mehr möglich gehaltenen Wunder von Gott mithilfe des Festes aus. So hält Gott uns die Hand hin, dass Frieden werde.

Weihnachten reicht in die Gemeinschaft der Völker hinein

Der Frieden aber, den Gott uns an Weihnachten hinhält, geht weit über die Familie hinaus, reicht in die Gesellschaft und in die Gemeinschaft der Völker hinein.

Kennen Sie die Erzählungen von Weihnachtsfesten an der Front im ersten Weltkrieg, wo belgische, englische und deutsche Soldaten ihre Waffen in den Schützengräben liegen ließen und stattdessen Zigaretten, Baguette und Wein miteinander teilten? Nach den Weihnachtstagen wurden ganze Einheiten von ihren Befehlshabern von der Front abberufen, denn sie wollten nicht mehr töten. Die Kampfesideologie und das sinnlose Töten wurden durch die menschlichen Begegnungen unterlaufen. Ja, Gott „stürzt die Mächtigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.“ (Magnificat)

Werden die Waffen schweigen?

Das orthodoxe Weihnachtsfest naht am 6. Januar. Werden da die Waffen auf beiden Seiten in der Ukraine schweigen? Wird unser westliches Weihnachtsfest und das orthodoxe Weihnachtsfest mit dem göttlichen Friedensgruß: „Frieden auf Erden“ noch Widerstand bei den Soldatinnen und Soldaten gegen das sinnlose Töten mobilisieren und die verstockten Herzen der Herrschenden zur Waffenruhe bewegen? Zu einer Waffenruhe, die den Boden bereitet zu ernsthaften Friedensverhandlungen aller beteiligten Kriegsparteien?

Dieses Weihnachtsfest führt uns mehr denn je vor Augen, wie zerrissen Europa ist. Weggucken und Wegducken helfen da nicht. Einzig und allein hilft dem anderen Frieden zu wünschen. Ist das nicht zusammengefasst die Botschaft, die Jesus von Nazareth gelebt hat?

Wir können heute und über den Weihnachtsfestkreis hinaus, uns mit unseren Gebeten und unserer Haltung für Frieden(sverhandlungen) einsetzen.

Lasst uns trotz und in allem kräftig und freudig feiern und einstimmen in das Lob der Engel:

„Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden.“

Amen

1 Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden

Sprachlich und vom antiken Denken her ist das einfach ein Gruß, gewiss ein besonderer Gruß, ein performativer Sprechakt, der bewirkt, was er aussagt und den Frieden auf Erden bringt. Gott kommt in guter Absicht und wünscht der Erde nichts sehnlicher als Frieden. Mit der Erde ist mehr als die Menschenwelt gemeint, Frieden auf Erden kommt zu der gesamten Schöpfung. Himmel und Erde werden spirituell unterschieden und sind aufeinander bezogen. Das können wir – selbst wenn wir dem antiken Weltbild und seinem Denken nicht mehr angehören – verstehen, beten wir doch mit Jesus im Vater unser: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.“  Auch wenn der Himmel nicht in irgendwelchen Schichten des Weltalls zu lokalisieren ist und auch der himmlische Vater nicht mit Rauschebart über den Wolken thront, haben wir mit unserem „schwachen Glauben“ Zugang zu der Wahrheit des Himmels und der göttlichen Wirklichkeit.

Dokumente zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Rezension von Christoph Fleischer, Fröndenberg 2022

zu: Dietrich Bonhoeffer: Konspiration und Haft, 1940-1945, Herausgegeben von Jørgen Glenthøj (+), Ulrich Kabitz und Wolf Krötke, Dietrich Bonhoeffer Werke, 16. Band, Chr. Kaiser Verlag 1996 jetzt: Gütersloher Verlagshaus Gütersloh, 2. Auflage 2016, ISBN 978-3-579-01886-7, gebunden, 956 Seiten, Preis: 199,00 Euro (print)

Zum Einstieg

Der Preis des umfangreichen Buches überrascht zunächst. Sicherlich ist die sorgfältige Edition aufwändig, zumal das Buch den Forschenden ausführliche Register an die Hand gibt (über 200 Seiten).

Der Herausgeberkreis dokumentiert die Editionsgeschichte im Vorwort und bietet im Nachwort den Versuch einer historischen und theologischen Einordnung der Widerstandstätigkeit Dietrich Bonhoeffers, die hier ausführlich dokumentiert wird. Die im zweiten Teil abgedruckten theologischen Arbeiten sind allesamt unveröffentlicht, da Bonhoeffer zwischen 1940 und 1943 und erst recht während der Haft jede Veröffentlichung verboten war.

Es gibt einige Fragen, mit denen ich die Lektüre dieser Materialsammlung angehe, die nicht nur allein von Bonhoeffer selbst verfasste Schriften enthält, und zugleich Briefes an ihn wie z. B. von Eberhard Bethge, dem späteren Herausgeber seiner Gefängnisbriefe und Biograph, sondern auch Gerichts- und Prozessunterlagen.

Fragen

Eine meiner Fragen ist: Inwieweit war der Verfasser friedensethischer Schriften selbst Kriegsdienstgegner oder gar Verweigerer, was ihm ja nicht vorzuwerfen wäre? Als er 1939 erneut aus den USA zurückkehrte, musste ihm diese anstehende Entscheidung immer deutlicher werden. Er führte von Schlawe (Pommern) aus sogenannte Sammelvikariate und musste sich dort auch mustern lassen. Der Einberufung entging er durch die „uK-Stellung“ auf Antrag der Abwehr im Bereich der Reichswehr, zu der er nun offiziell gehörte. Hierzu hatte sein Schwager von Dohnanyi gesorgt.

Wie viele Auslandsreisen Bonhoeffer absolviert hat und wofür, ist wohl noch lange im Unklaren geblieben. So musste er während seines Aufenthalts im Kloster Ettal mehrere Monate auf das Visum für die Schweiz warten. Die Frage der indirekten Kriegsdienstverweigerung sollte in den Prozessakten einen breiten Raum einnehmen. Hierbei wird auch indirekt deutlich, dass die Abwehr selbst juristisch angreifbar schien. Leitende Beamte wir Wilhelm Canaris (1887 – 1945) und Hans von Dohnanyi (1902 – 1945) wurden ja ebenfalls von den Nationalsozialisten ermordet.

Die Frage, ist ob angesichts weitreichender Rede und Schreibverbote von herkömmlicher theologischer Arbeit überhaupt noch die Rede sein konnte. Trotzdem dokumentiert der Band, dass der Theologe Dietrich Bonhoeffer die Arbeit an theologischen Konzepten nicht aufgegeben hat.

Besonders der Briefwechsel mit Eberhard Bethge im ersten Teil erinnert in seiner Reflexion schon in weiten Zügen an die Gefängnisbriefe ( siehe: „Widerstand und Ergebung“, DBW Band 8). Zusätzlich wird immer wieder auf das Projekt der „Ethik“ (DBW, Band 6) Bezuggenommen, an der Bonhoeffer besonders in Ettal, aber letztlich bis zu seiner Verhaftung gearbeitet hat. Einzelne Themen der „Ethik“ sind von einem Situationsbezug her zu bewerten, der in den Dokumenten zwischenzeitlich angesprochen wird.

Eine weitere Frage ist, inwieweit Bonhoeffer schon in den politischen Widerstand involviert war. Hierzu wird es kaum schriftliche Quellen geben. Der Besuch in der Schweiz 1941 rechnet mit einer Möglichkeit des Kriegsendes durch eine Art Regierungswechsel. Wie dieser Umsturz geplant war, bleibt offen. War das Attentat vom 20.07.1944 als Auslöser eines Militärputsches gedacht oder sollte es so schnell es geht zurück zur Demokratie kommen?

Meine letzte Frage ist die nach Befremdlichem. Wie verhält sich die pazifistische Position, mit der Bonhoeffer den waffenlosen Dienst als Agent der Abwehr dem Kriegseinsatz vorzieht zu anderen Arten des Widerstandes gegen Hitler? Warum bezieht sich Dietrich Bonhoeffer in seinem Brief gegen den Vorwurf „volkszersetzender Tätigkeit“ nicht in erster Linie auf die Religion, sondern seine adlige und zum Teil untadelige bürgerliche Herkunft (S. 62)? Und gibt es gar in den Rundbriefen im Gedenken an die Gefallenen eine Art „Kriegstheologie“, wenn es z. B. heißt: „Braucht Gott etwa unsere Brüder zu irgend einem verborgenen Dienst für uns in der himmlischen Welt?“ (S. 193) Warum bezieht er sich in dem Bericht über die Deportationen nicht auf den Verdacht, es könne sich um Ermordungen handeln (vgl. S. 213 „nach Polen“)? Und: Warum gibt es in der kritischen Ausgabe Stellen, die als nicht zitierfähig bezeichnet werden? Worum geht es dabei, um private Beziehungen etwa?

Was typisch ist

Wie schon in „Widerstand und Ergebung“ werden zahlreichen theologische Fragen reflektiert. Erstaunlich sind dabei Bonhoeffers Formulierungen, die seinen Veröffentlichungen eine besondere Tiefe geben. Dazu am Ende der fragmentarischen Rezension ein Beispiel: „Die Unverantwortlichkeit der Zukunft gegenüber ist Nihilismus, die Unverantwortlichkeit der Gegenwart gegenüber ist Schwärmerei. Beides müssen wir überwinden und in dieser Aufgabe, die auch eine höchst persönliche ist – werden wir uns einmal vereinigen müssen und können…“ (Brief an Christoph Bethge, hier S. 223).

Würdigung

Der hier skizzenhaft rezensierte Band 16 der Dietrich Bonhoeffer Werke zeigt dass, wie schon bei der Neubearbeitung der Gefängnisbriefe unter der Überschrift „Widerstand und Ergebung“, überlieferte Dokumente und auch Briefe an und über Dietrich Bonhoeffer zum Verständnis seines Wirkens hinzugehören.

Hierbei wird zudem auch die historische Perspektive zu würdigen sein, in der Bonhoeffers Rolle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu bedenken ist. Letztlich ist ihm in der Funktion als Agent der Abwehr eine politische Funktion zugewachsen, die es neben der theologischen auch in Zukunft stärker zu würdigen ist. Dadurch wäre Bonhoeffers Theologie nun erst recht eine politische Theologie geworden.

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